Homeschooling auf syrisch ©Mutaz Enjila

Homeschooling auf syrisch

CORONA kam und damit die Fragen unserer Kinder: Wo kommt es her? Warum müssen so viele unschuldige Menschen sterben? Wie können wir uns schützen? Meiner Frau und mir kamen diese Fragen erschreckend bekannt vor. Es waren fast die gleichen Fragen, die wir vor ein paar Jahren beantworten mussten, als wir die lange Belagerung unserer Stadt in der Nähe von Damaskus mit all ihrem tödlichen Schrecken erlebten. Auch damals regierte der Tod. Die internationalen Medien veröffentlichten damals täglich die neuesten Zahlen der Opfer des schrecklichen Krieges in Syrien. Jetzt sind es die Zahlen des Robert-Koch-Instituts, die den Takt angeben. Dabei waren wir so froh, dass wir ein sicheres Land gefunden haben, das uns mit all der Liebe und Menschlichkeit begrüßt hat. Mit CORONA ist jetzt die Angst wieder da. Die Krankheit übernimmt die Rolle des Diktators.

Damit hatten wir nicht gerechnet

Allerdings fehlt uns im Moment die Zeit, darüber nachzudenken und uns mit unseren Erinnerungen zu plagen, denn mit CORONA ist etwas Neues in unser Leben getreten: Homeschooling. Als die Schulen im März schlossen, dachten wir, dass es unsere Rolle ist, unsere vier Kinder zu beruhigen, sie über die Gefahren von CORONA aufzuklären und ihnen Verhaltensanweisungen zu geben: Abstand halten, Händewaschen und all das andere. Wir hatten gedacht, dass die Schule bald wieder öffnet und als wir merkten, dass es nicht so schnell geht, dachten wir, dass die Kinder schon irgendwie von den Lehrern weiter unterrichtet würden. Stattdessen gab es nur einmal pro Woche einen Videochat und einen Haufen Hausaufgaben. Meine Frau und ich fanden uns unter einem Berg von Arbeitsblättern wieder. Schnell stellten wir fest, dass es sich auch nicht um Wiederholungen des bereits gelernten Stoffs handelte, sondern um neues Wissen. Zum Glück ist meine Frau Englischlehrerin und hat in Syrien in einer Schule gearbeitet. Aber wir haben drei Schulkinder in verschiedenen Klassenstufen und verschiedenen Schulen.

Vergeblich hofften wir auf Anleitungen für den Unterricht. Als sie nicht kamen, machten wir selbst einen Plan. Wir begannen zu übersetzen, im Internet zu graben, uns die Haare zu raufen. Dann teilten wir die Fächer und Stunden ein. Manches kam uns bekannt vor, anderes hatten wir vielleicht in der Schulzeit einmal gelernt und dann vergessen oder es war uns gänzlich neu.

Dann habe ich angefangen, Mathe auf Arabisch zu erklären

Die meiste Unterstützung braucht unsere jüngere Tochter, die in die vierte Klasse geht. Zum Beispiel in Mathe. Da ist gerade das Thema Gewichte, Maße und Umrechnungen dran. Ich bin inzwischen dazu übergegangen, es ihr auf Arabisch zu erklären. Das funktioniert besser und ganz nebenbei üben wir dabei auch Arabisch. Jetzt hat sie es verstanden. Als der Lehrer sie dafür lobte, haben wir uns beide gefreut. Das war gut, denn sonst brachten sie die vielen Pflichten manchmal zu Weinen und uns Eltern fast auch.

Dann ist da noch das Problem mit dem Smartphone. Meine kleine Tochter nutzt eifrig ihre Lern-App, damit sie ihr Handy länger benutzen darf. Ihr älteren Geschwister benutzten ihre Telefone natürlich auch viel. Immer, wenn wir sie fragten, was sie so lange an ihren Geräten machen, antworteten sie: Wir lernen. Wir versuchten Regeln aufzustellen, aber ohne Erfolg: Die Kinder wollen die Zeit gut machen, die sie sonst mit Freunden im Park oder in der Schule verbringen.

Jetzt machen die Schulen langsam wieder auf. Das ist ein Lichtblick. Allerdings kommt jetzt zum inzwischen normalen Alltag in unserer Heimschule ständiges Hin- und Herfahren. Ein Kind hat Montags zwei Stunden, das andere am Dienstagnachmittag ein bisschen Unterricht.

Nebenbei habe ich noch einen Job als Redakteur bei Amal, Hamburg! und da war in der letzten Zeit auch viel zu tun. Wegen der ständigen Ablenkung habe ich oft Fehler gemacht, musste meine Texte dreimal lesen, bis sie gut waren. Besonders kompliziert ist das Aufzeichnen von Videointerviews übers Internet. Das geht eigentlich nur, wenn die Kinder schlafen. Manchmal bin ich zur Entspannung allein vor die Tür gegangen und habe mich ein bisschen ins Auto gesetzt. Wie schön. Wie still. Oder ich bin allein einkaufen gegangen, um mich zu entspannen, ohne spielen und Konflikte zu führen.  Meine beiden Kleinen (6 und 10 Jahre) haben das längst mitbekommen und sagten: „Wie, du willst allein gehen und uns im Corona-Gefängnis lassen? Entweder wir kommen mit oder Du bleibst hier!“ Das war es mit meiner heimlichen Entspannungszeit.

Trotz allem ist es aber auch eine besondere Zeit. Manchmal spiele ich mit meinem jüngsten Sohn in der Wohnung Fußball. Das ist lustig, aber nicht ohne Folgen für die Glühbirnen. Wir haben uns angewöhnt, jeden Tag Heimsport zu machen und meine Frau hat nebenbei köstlich für uns alle gekocht. Am Schönsten war es, als wir einmal den Elekrogrill angeworfen haben. Das war wie Picknick in der eigenen Wohnung.

Meine Frau und ich haben uns alle Mühe gegeben, den Kindern eine schöne Zeit zu bereiten. Wir wollen nicht, dass es allzu sehr an die schmerzhafte Zeit erinnert, die wir in der Belagerung in Syrien erlebt haben.

Quarantäne und Kontaktbegrenzung sind bitter und zugleich süß. Es war eine harte Zeit und uns steht auch noch einiges bevor, zugleich hat uns die Zeit auch wieder näher zusammengebracht. Als Familie und als Paar. Ich schäme mich, dass ich in diesem Artikel so viel über mich selbst gesprochen habe, deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um meiner Frau zu danken. Sie verwandelte unser Zuhause täglich in einen neuen Ort: Ein Tag war es eine Schule, ein Tag ein Kino, am nächsten war es ein Garten, ein Restaurant oder Theater. Sie hat CORONA getrotzt. Wir lieben dich dafür!

Dieser Artikel erschien zuerst im Hamburger Abendblatt