Kabul-Leak. Geheimakte Kabul, Deutschlands Versagen in Afghanistan, heißt eine spannende Dokumentation, die kürzlich im ZDF ausgestrahlt wurde. Ein Team, bestehend aus den Journalist:innen Christian Schweppe, Tim Gorbauch und Ciara Cesaro-Tadic werten das Kabul-Leak, ein Datenleck aus. Sie haben Zugang zu der internen Kommunikation der höchsten Entscheidungremien der Bundesregierung und können so ein detailliertes Bild der dramatischen Tage vor und nach dem Fall von Kabul an die Taliban zeichnen. Sie stellen der damaligen Bundesregierung ein verheerendes Zeugnis aus: Trotz wiederholter Warnungen und eindeutiger Hinweise auf eine mögliche Katastrophe haben die Verantwortlichen nicht rechtzeitig gehandelt. Emily Haber, die damalige deutsche Botschafterin in den USA, hatte die deutsche Regierung wiederholt aufgefordert, sich auf den schlimmsten Fall vorzubereiten. Ihre Warnungen verhallten. Dem zügigen Vormarsch der Taliban wurde tatenlos zugeschaut.
Kabul-Leak: Was wusste die Bundesregierung?
Mit diesen Enthüllungen drängt sich erneut die Frage auf: Haben das Blut und das Leben von mehr als 35 Millionen Menschen in Afghanistan in den Augen der Weltmächte keinen Wert? Die Dokumente zeigen weiterhin, wie das Schicksal einer Nation angesichts der Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit westlicher Entscheidungsträger riskiert wurde. Ausgerechnet Deutschland, das sich die Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat, hat im entscheidenden Moment versagt. Die Welt beobachtete aus der Ferne, den Fall Kabuls und die Rückkehr der Taliban an die Macht. Man schaute zu, wie Tausende Afghanen, insbesondere derjenigen, die den westlichen Streitkräften vertraut und für sie gearbeitet hatten, in Lebensgefahr gerieten.
Deutschlands tödliche Nachlässigkeit
Aus dem ZDF-Bericht geht hervor, dass Emily Haber, die damalige deutsche Botschafterin in den USA, die deutsche Regierung in den Tagen vor dem Fall Kabuls nachdrücklich gewarnt hatte, dass die Taliban schnell vorrückten und die USA nicht beabsichtigten, militärisch einzugreifen. Ihren Warnungen wurde nicht ausreichend Beachtung geschenkt und es wurden nicht rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen getroffen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Aus den E-Mails, die Teil der nun vom ZDF veröffentlichten Geheimdokumente sind, geht hervor, dass Haber am 12. August 2021 – drei Tage vor dem Fall Kabuls – schrieb, dass ein militärisches Eingreifen der USA „unmöglich“ sei. Unterdessen deuteten auch mehrere andere Berichte der deutschen Botschaft in Washington darauf hin, dass die Lage in Afghanistan rasch auf eine Katastrophe zusteuert. Diese Warnungen gingen jedoch wohl in der Bürokratie der deutschen Regierung verloren oder führten aus anderen Gründen nicht zu einer rechtzeitigen Evakuierungsaktion.
Scheitern der westlichen Diplomatie?
Aus einem anderen Teil dieser Dokumente geht hervor, dass die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in den letzten Augusttagen 2021 an den russischen Präsidenten Wladimir Putin appellierte, er möge seinen Einfluss auf die Taliban zu nutzen, um den afghanischen Ortskräften einen sicheren Abzug zu ermöglichen. Dies erscheint merkwürdig, da Russland sich auch als Hauptunterstützer dieser Gruppe erwiesen hatte. Merkels Bitte um Hilfe an Putin zeigte in gewisser Hinsicht den Höhepunkt des Scheiterns der westlichen Diplomatie. Ein mächtiges Land wie Deutschland war an den Punkt gelangt, seine Feinde anzuflehen, das Leben der Menschen zu retten, die die es die Verantwortung trug: Die afghanischen Ortskräfte.
Vernachlässigte Opfer
Der vielleicht ergreifendste Teil dieser Berichte ist, warum weitere für Deutschland arbeitende örtliche Truppen Afghanistan nicht rechtzeitig verlassen konnten. Diese Menschen, die wegen der Kollaboration mit westlichen Streitkräften in großer Gefahr waren, wurden ignoriert. Während die Evakuierungspläne bereits Monate im Voraus hätten beginnen sollen, führte die Bundesregierung die Evakuierung in aller Eile in letzter Minute durch. Das Ergebnis dieser mangelnden Planung und Nachlässigkeit war, dass Tausende lokaler afghanischer Streitkräfte in Afghanistan zurückblieben. Darüber hinaus verursachte die ungeplante Evakuierung eine weitere Katastrophe. In den ersten zwei Wochen nach dem Fall Kabuls, als Tausende afghanische Bürger, insbesondere afghanische Mitarbeiter europäischer und amerikanischer Institutionen, aus Angst vor den Taliban zum Flughafen Kabul eilten, kamen durch den Druck der Menge Hunderte Menschen ums Leben oder wurden Opfer der Taliban.
Moralisches und politisches Versagen
Bisher wurden verschiedene Enthüllungen über die Ereignisse am Rande des Falls Kabuls und des chaotischen Abzugs ausländischer Streitkräfte aus Afghanistan veröffentlicht. Diese Berichte, die die große Gleichgültigkeit der westlichen Länder gegenüber dem Leben von Millionen Menschen in einem armen Land wie Afghanistan verdeutlichen, haben bei den Afghan:innen und allgemein bei den Verteidiger:innen der Menschenrechte ein Gefühl der Wut und Verzweiflung hervorgerufen. Die afghanischen Bürger glauben, dass die Welt sie im Stich gelassen hat. Der Fall Kabuls und die Rückkehr der Taliban an die Macht waren nicht nur ein militärischer Misserfolg, sondern auch ein moralischer Misserfolg.
Wird die Welt etwas lernen?
Die vom ZDF veröffentlichten Dokumente zeigen der Welt, dass es in Afghanistan ein großes Versagen gegeben hat. Am Vorabend des Abzugs aus Afghanistan riskierte die Welt wissentlich das Leben und die Zukunft Tausender Afghanen, insbesondere derjenigen, die mit westlichen Streitkräften kooperiert hatten. In diesen entscheidenden Moment, war der damaligen Bundesregierung der bevorstehende Bundestagswahlkampf näher als die Situation der Menschen, die jahrelang für Deutschland gearbeitet hatten.
Es gilt, die Fehler aufzuarbeiten, denn es sollte eine Warnung an alle Verantwortlichen sein. Das Versagen der Weltgemeinschaft im Falle Afghanistans und die Gleichgültigkeit westlicher Länder gegenüber diesem Thema haben nicht nur das Leben von Millionen Menschen in Afghanistan zerstört. Es braut sich dort auch ein Sicherheitsrisiko zusammen, das die ganze Welt bedroht. Jetzt macht der IS Khorasan mit Angriffen vor allem in den angrenzenden Ländern, aber auch in Russland von sich reden. Diese und andere Terrororganisationen bedrohen allerdings auch Europa.
Diesen Beitrag hat Amal-Redakteurin Nilab Langer von unserer Redaktion in Hamburg zuerst hier veröffentlicht. Weitere Beiträge zum Jahrestag des Sturzes von Kabul gibt es hier und hier.