Norbert Neetz epd
20. Februar 2023

Integration ist wie eine Liebesbeziehung

Wir haben uns in dieser Woche mit den Katastrophen unserer Welt beschäftigt: Mit den Opfern des Erdbebens, mit der Angst vor der russischen Offensive in der Ukraine und natürlich haben wir auch ausführlich über die Berliner Wahl berichtet. Trotz all der Aktualität und Dringlichkeit, ist es ausgerechnet ein sehr nachdenklicher Kommentar unserer Kollegin Samah al Shagdari, der in dieser Woche heraussticht. Er hat viele Leser:innen erreicht und zu einer lebhaften Diskussion auf Facebook geführt. Er richtet sich an ein arabisches Publikum, ist jedoch auch für deutsche Leser:innen interessant.

So veröffentlichen wir heute hier den Kommentar von Samah al-Shagdari als Übersetzung. Viel Spaß beim Lesen und …. beim Warten auf den nächsten verspäteten Zug.

Verschont uns mit Euren Belehrungen, lasst uns lieber über die wirklichen kulturellen Unterschiede und Besonderheiten sprechen!

Der Zug ist zu spät. Schon mehr als eine Viertelstunde. Ich schaue mich um, beobachte die Gesichter der Wartenden. Zeigt jemand Ungeduld oder teilt vielleicht meine Not. Ich bin gerade dabei, einen wichtigen Termin zu verpassen. Ich suchte nach Mitgefühl, nach Verbündeten, mit denen ich gemeinsam mein Schicksal beklagen könnte. Statt dessen finde ist etwas, was viel wertvoller ist. Im Nachhinein muss ich sagen, diese unfreiwillige Wartezeit, die ich als Beobachtungszeit nutzen konnte, sich sehr gelohnt hat. Ich habe etwas gelernt. Man kann sagen, es war nützlicher als die meisten Integrationskurse.

Bahnstationen sind Orte der Begegnung. Hier zeigt sich das Gemisch der vielen verschiedenen Menschen aus aller Welt, die in Deutschland leben, sich aber sonst nicht sehr oft begegnen. Ich interessiere mich ja schon seit längerem dafür, wie Integration in diesem Land funktioniert. An diesem Morgen, der so kalt und unfreundlich daherkam, standen die Menschen am Bahnhof und warteten. Ich beobachtete und fragte mich: Wäre ich im Jemen, wie würden die Menschen, wie würde ich in dieser Situation reagieren? Da fiel mir aber schnell ein, dass es im Jemen gar keine Züge und Bahnhöfe gibt und ich konzentrierte mich wieder auf die Situation im Hier und Jetzt.

Ich beobachtete zwei Männer. Einer von ihnen war ungeduldig, trat von einem Bein aufs andere und murmelte ärgerlich vor sich hin. Der andere zeigte keine sichtbare Reaktion. Ich empfand diese Situation sehr symptomatisch, zumal der ungeduldige, ärgerliche Mann offensichtlich ausländischer Herkunft war und der reaktionslose ein Deutscher. Das machte mich zusätzlich neugierig. Als der Zug endlich einfuhr, saß ich neben zwei Frauen und wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte ihnen, dass ich gerade meinen Termin verpasst hatte, weil der Zug zu spät gekommen war. Sie bemitleideten mich, sagten aber, dass es keinen Sinn mache, sich darüber aufzuregen. Es helfe nichts und verderbe nur mir und den Menschen in meinem Umfeld den Rest des Tages. „Wenn man sich aufregt, kommt davon der Zug doch auch nicht früher! Wozu also? Die Spannung macht nur alles unangenehmer!“, sagte die Ältere und die Jüngere nickte zustimmend.

Für mich war dies eine wichtige Erkenntnis. Wir sollten unsere Parameter der Integration noch einmal überdenken: Es gibt eine sehr besondere Art, wie Menschen in Deutschland mit dem Thema Ärger und Enttäuschung umgehen. Die meisten Neuangekommenen stammen aus Ländern, in denen sehr emotional reagiert wird. Es ist nicht verbreitet, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und viele von uns lassen unserem Frust, unserem Zorn und unserer Freunde freien Lauf und wir zeigen unsere Stimmung allen in unserem Umfeld. Dies ist einer der Gründe, weshalb es in Deutschland diese parallelen Gesellschaften gibt. Getrennt nach Herkunft – oder sagen wir lieber Frustrationslevel – leben die Menschen nicht mit-, sondern nebeneinander. Ich nahm mir vor, weiter über dieses Thema nachzudenken. Hierzu müssten die Neuangekommenen mehr erfahren, das würde ihr Leben leichter machen.

Für Migrant:innen und Geflüchtete gibt es viele bewundernswerte und gute Dinge in Deutschlands Kultur und im gesetzlichen Rahmen. Allerdings gibt es auch eine Eigenschaft, die viele von uns extrem verletzt und ärgert. Das ist, wenn wir behandelt werden, als kämen wir direkt aus der Steinzeit. Als hätten wir in unserem bisherigen Leben in Höhlen gewohnt und noch nie Messer und Gabel benutzt. Ich erinnere mich an einen speziellen Workshop, den ich hier gleich nach meiner Ankunft in Deutschland besucht habe. Es war so absurd, dass wir alle nach kurzer Zeit ärgerlich den Raum verlassen haben. Auch hier gibt es eine Lücke zu schließen. Statt Workshops zu veranstalten, in denen uns erklärt wird, wie wir Dinge machen sollen, die wir auch in unseren Ländern schon gemacht haben, sollten es Workshops für die Workshopgestalter:innen geben, dass sie etwas mehr über die Herkunftsländer der Geflüchteten erfahren. Dann würden sie nicht solche Workshops konzipieren. Es ist dringend notwendig, Vorurteile und Stereotype zu durchbrechen. Es muss eine Atmosphäre entstehen, in der sich alle wertgeschätzt und gesehen fühlen, wir sollten das Gemeinsame in den Vordergrund stellen und anschauen, was die entscheidenden kulturellen Unterschiede sind. Sie gilt es zu erkennen und zu verstehen.

Niemand hat Zweifel daran, dass Deutschland eine wichtige Rolle in dieser Zeit spielt und seine Arme geöffnet hat, um zuerst Flüchtlinge aus arabische und muslimischen Ländern und jetzt die Ukrainer:innen aufzunehmen. Im Vergleich zu anderen Aufnahmeländern haben wir hier gute Verhältnisse. Die Unterstützung und Versorgung, die uns zuteil wird, ist großzügiger, als man es sich vorstellen kann.  Unvergessen sind auch die Szenen, wie die Einwohner München, Hamburgs und anderer deutscher Städte an den Bahnhöfen syrische Geflüchtete mit Blumen, Wasser und einer Mahlzeit in Empfang nahmen. Integration ist jedoch mehr als Unterbringung, Versorgung, Sprachkurse und die Einbeziehung in den Arbeitsmarkt. Ich kenne Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben und in guten Jobs arbeiten, jedoch keine wirkliche Beziehung zur deutschen Gesellschaft haben.  Hier gilt es anzusetzen. Dies ist der Knoten, den wir lösen müssen. Es ist wichtig, den Neuangekommenen die Besonderheiten der deutschen Kultur zu erklären. Integration ist ja sehr ähnlich wie Liebe. Wie in den meisten Liebesbeziehungen ist auch bei der Integration das Scheitern wahrscheinlicher als der Erfolg. Es braucht den festen Willen von beiden Seiten, es miteinander zu versuchen. Ein gewisses Maß an Information übereinander ist dabei unabdingbar, um auf die Dauer miteinander zurecht zu kommen.
Derzeit verschwendet die deutsche Regierung Ressourcen, um den Neuangekommenen beizubringen, wie sie bestimmte Dinge zu tun haben, die sie schon immer gemacht haben. Dies fördert nicht Integration, sondern führt zu Frust und Ärger. Die Menschen fühlen sich nicht Ernst genommen und erniedrigt. Wir brauchen niemanden, der uns erklärt, dass man ein Bügeleisen ausstöpseln muss, wenn man mit den Bügeln fertig ist und das Licht ausschaltet, wenn man das Zimmer verlässt. Viel wichtiger wäre es, dass die Neuangekommenen verstehen, wie sehr sich ihre Haltung und Herangehensweise in manchen Situationen von der der Deutschen unterscheidet. Meine Erkenntnis vom Bahnsteig und meine Entdeckung der deutschen Gelassenheit angesichts des Unausweichlichen ist dafür nur ein Beispiel.

Bilder: Norbert Neetz, epd

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