Der Neuanfang und der Wiederaufbau in Syrien sind Mammutaufgaben und man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Was ist das Wichtigste? Die Sicherheitslage? Die Wirtschaft? Die Bewältigung der Verbrechen der Vergangenheit? Welche Rolle spielen die Konflikte in den Nachbarländern?
Neuanfang der Kultur
Angesichts der vielen Probleme geraten die grundlegenden Fragen des Neuanfangs leicht ins Abseits: Welche Kultur braucht das neue Syrien? Welche Kunstformen, welche Literatur und welche Medien sind geeignet, das neue Lebensgefühl auszudrücken und den Aufbau eines freiheitlichen Syriens zu unterstützen? Was kann die syrische Diaspora in Deutschland beitragen?
Bereits zum dritten Mal veranstaltete die syrische Redaktion von Amal eine Diskussionsveranstaltung. Diesmal wurde der Kreis und auch das Thema erweitert. Kamen bei den ersten beiden Runden im Januar und Februar in erster Linie Journalist:innen im Exil zusammen, waren nun auch Künstler:innen und Kulturschaffende eingeladen und im Fokus stand diesmal nicht allein der Aufbau des Mediensektors, sondern die Frage nach der neuen Freiheit und ihren möglichen Grenzen in Syrien. Besonders war auch, dass Amal diese Veranstaltung in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierte und der Runde Tisch auch in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung stattfand.

Damaskus-Format: Reden, zuhören, respektieren
Die Veranstaltung fand im sogenannten Damaskus Format statt: Angelehnt an die vielen Diskussionsveranstaltungen, die derzeit in Damaskus stattfinden und in deren Mittelpunkt steht, dass möglichst alle zu Wort kommen, einander zugehört wird und der Umgang aus Respekt beruht.
26 Personen sind gekommen. Unter ihnen bildende Künstlerinnen wie Sawsan Haj Ibrahim, Journalist:innen wie Noha Al-Salloum, Musiker wie Wassim Mukdat, Aktiviten wie Maher Esber und viele mehr. Moderiert wurde die Veranstaltung von Heifaa Atfeh und Khalid Al Aboud von Team der Amal News Redaktion.
Neue Mauern aus Hass und Misstrauen
„Wir haben zusammen demonstriert, gefeiert und unter dem Regime gelitten“, beginnt Heifa Atfeh ihre Moderation: „Als das Regime fiel, dachten wir, dass wir nun endlich zusammenarbeiten und Hand in Hand das Land aufbauen können. Doch wir mussten feststellen, dass nach der ersten Jubelstimmung nach dem Fall des Diktators nun Mauern zwischen uns wachsen. Dem wollen wir etwas entgegensetzen“, erklärt sie und beschreibt, wie schwierig es war, die Runde zusammenzustellen. Viele syrische Intellektuelle und Künstler:innen hatten die Einladung abgelehnt. Angesichts der angespannten Lage in Syrien und der Gewalt zwischen den verschiedenen Volksgruppen sei ihnen nicht nach Reden zu Mute. „Wir finden allerdings, dass wir gerade deswegen reden sollen“, sagt Haifa Atfeh.
Die Freiheit ist nicht mehr nur ein Kampf gegen die Zensur
Die TV-Moderatorin brachte die Diskussion um die Freiheit in Syrien in einem kurzen Input auf den Punkt: „Die Meinungsfreiheit ist heute nicht mehr der Kampf gegen die Zensur. Ich würde sagen, dass es derzeit kaum Zensur gibt. Es ist aber klar: Meinungsfreiheit bedeutet heute, dass wir uns gegen Hass wehren und für die Gerechtigkeit einsetzen“, sagt sie und verweist auf die Rufe nach Übergangsgerechtigkeit und Bestrafung der Verbrechen der Vergangenheit.
Ausländischer Einfluss
Zunächst drehte sich die Diskussion am runden Tisch um die Frage, welche Art von Förderung die neue Kulturlandschaft in Syrien benötige, um zu gedeihen. Neuanfang ohne Förderung könne nicht gelingen. Manche Teilnehmende äußerten die Sorge, dass Syrien wieder dahin kommen könne, dass nur die Formen von Kultur eine Chance hätten, die dem jeweiligen Kulturminister gefielen oder ausländischen Geldgebern ins Konzept passten. Je nach Geber und je nachdem, ob es sich etwa um europäische oder golfarabische Förderer handele, verfolgten diese mit der Förderung eigene Interessen.
Ausländischer Einfluss – anderer Aspekt
Abdallah al Qassir stellte sein Projekt Al Kalima vor. Es ist kurz nach dem Sturz des alten Regimes entstanden, als sich vier Schriftsteller:innen aus Salamia zusammentaten und eine Gruppe gründeten. Ihr Fokus: Die Fragen diskutieren und die Arten von Kultur hervorheben, die bislang verboten waren. „Obwohl wir eigentlich kein Geld haben und uns auch nicht besonders schöne Räume leisten können, kamen von Anfang an viele Leute zu unseren Veranstaltungen“, erzählt Abdullah al-Qassir. Al Kalima ist nur eines von vielen Beispielen, wie in den vergangenen Monaten neue Projekte durch privates Engagement und mit wenig Fördergeldern entstanden sind. So organisierte Yasmin al Merei Workshops für Mädchen in Homs, es gab ebenfalls in Homs eine Aufführung des Theaters Osnabrück und die Aleppo feierte man sogar die Fete de la Musique. Unübersehbar also, welche Rolle die Diaspora beim Aufbau der Kultur spielt.
Abdallah al-Qassir hat die vergangenen Jahre in Halle/Saale gelebt und hat viele der Erfahrungen, die er dort im Kulturbereich und beim Netzwerken gesammelt hat, auf seine neue Tätigkeit bei Kalima in Syrien übertragen können.
Können sich Menschen in Syrien Kultur überhaupt leisten?
„Man stellt sich die Frage, ob diese Art von Kunst- und Kulturdiskussion angemessen ist. Man bedenke, dass noch mehr als 1,4 Millionen Syrer:innen in Zelten leben. Viele haben nicht genug zu essen und ihnen fehlt einfach die Kraft, um sich für Kunst und Kultur zu interessieren“, so der Einwand eines der Teilnehmers und eine andere ergänzt: „Viele bildende Künstler leben in sehr prekären Verhältnissen. Sie haben keine Mittel, um Farben und Leinwände zu kaufen und versetzen ihre Wertgegenstände, um etwas zu essen zu kaufen“. Ein andere fügt an: „Keiner meiner Künstlerfreunde in Syrien arbeitet noch im Kulturbereich. Manch einer ist Manaquisch-Bäcker geworden. Auch das ist eine ehrenwerte Tätigkeit“.
„Wir sind gefangen in einem Dreieck aus Hunger, schwieriger Sicherheitslage und Unwissenheit. Da weiß man gar nicht, welches Problem am größten ist und wie wir vorgehen können“, brachte einer der Teilnehmenden die Lage auf den Punkt. Miteinander reden – sowohl unter Syrer:innen in Syrien als auch in Deutschland – ist auf jeden Fall ein wichtiger erster Schritt. Angesichts der angespannten Lage in Syrien, angesichts der Unsicherheit, wie se weitegeht und angesichts der wachsenden Mauern zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Religionen, ist es schon ein großer Erfolg, wenn überhaupt einen Abend lang so unterschiedliche Menschen zusammenkommen, diskutieren und sich gegenseitig zuhören.