Foto: Amal Hamburg
23. Mai 2019

Die unterschätze Freiheit

Wenn man Iraner*innen nach dem Grund der Auswanderung fragt, taucht nicht selten diese Antwort auf: »Weil ich leben will«. Laut asriran.com planen inzwischen 1,5 Millionen von ihnen, das Land zu verlassen (Stand: 2017). Aber nicht nur, weil sie verfolgt werden oder der herrschenden Unsicherheit entkommen möchten. Die meisten von ihnen sind nie politisch aktiv gewesen. Und trotzdem wird das Land irgendwann für sie nicht mehr erträglich. Ich stamme auch aus dem Iran und wurde tatsächlich aus politischen Gründen verfolgt. Wegen regierungskritischer Berichterstattung verhaftet und in einem 10-minütigen Gerichtsverfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Um die Strafe nicht antreten zu müssen, habe ich meine Heimat auf illegalem Wege verlassen.

Man könnte denken, dass sich die Freiheit für mich als Journalist in erster Linie auf die Meinungs- und Pressefreiheit bezieht. Aber das ist nicht so, zumindest nicht nur.

Staatliche Zensur und das fehlende Recht, sich öffentlich und frei äußern zu dürfen, sind mindestens für Journalist*innen
Grund genug, ein Land wie den Iran auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Das stimmt wohl. Aber es gibt noch eine andere Art Freiheit, eine allgemeinere Freiheit, die nicht nur die politisch oder publizistisch Engagierten betrifft, sondern die gesamte Gesellschaft. Freiheit im Alltag sozusagen.

Die Freiheit der Banalität

Ich möchte sie »Freiheit der Banalität« nennen. Sie beinhaltet, dass mein tägliches Verhalten von den Machthabern (ohne Gendersternchen, weil sie tatsächlich nur männlich sind) nicht als abnormal betrachtet wird. Dass ich, egal was ich tue, wen ich kenne und wen ich liebe, keine Repressalien zu fürchten habe.

Hört es sich belanglos an? Oberflächlich? Vielleicht ist es das. Und genau darum geht es. Um die Kriminalisierung des Alltags.

Im Iran hatte ich mal einen Streit mit meinem Nachbarn darüber, ob mein Auto vor seinem Haus parken dürfe. Ich habe die Frage nicht verstanden. Nach keinem Gesetz gehörte ihm der Parkplatz vor seinem Haus. Der Nachbar reagierte auf mein Unverständnis  mit dem Hinweis, dann eben die Polizei zu verständigen, wenn mich das nächste Mal eine Freundin besuchen würde. Ich hatte als kritischer Journalist ohnehin tagtäglich mit Sicherheitsbehörden zu tun und kein Interesse an weiteren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Also habe ich den Parkplatz aufgegeben.

Während einer Vernehmung in einem anderen Zusammenhang wurde ich nicht nur nach Beiträgen in dem Magazin, dessen Chefredakteur ich war, ausgefragt, sondern oft auch über meine Freunde und besonders meine Freundinnen.

Wer sich im Iran gegen das herrschende System wendet, weiß, dass es zu einer Auseinandersetzung mit Sicherheitsbehörden kommen wird, dass es schreckliche Folgen haben wird, die ein Leben für immer ändern können. Mit diesen Erkenntnissen entscheidet man sich für das politische Engagement – oder eben dagegen. Aber sich für oder gegen den Alltag entscheiden zu müssen, ist aus meiner Sicht die größtmögliche Freiheitsberaubung. Der Verlust der Freiheit im Alltag: ein erprobtes Werkzeug von Diktaturen und Autokratien, um die Gesellschaft zum Schweigen oder zumindest zur Ausreise zu zwingen.

Omid Rezaee, 29 Jahre alt, leitet seit 2019 das Büro der Nachrichtenplattform von Amal, Hamburg. Er betreit den Blog Perspektive Iran und arbeitet als freier Journalist für iranische Exil-Medien sowie deutsche Medienhäuser (Zeit, neues deutschland). Er studiert Digital Journalism an der Hamburg Media School. Im Projekt Media Residents hat Omid zusammen mit Bastian den Podcast „keine Ahnung“ über unterschiedliche (und gemeinsame) Perspektiven von Einheimischen und Newcomern produziert und im selben Zeitraum seinen persönlichen Podcast „Radio Editorial“ über die internationale Berichterstattung über sein Herkunftsland gestartet.

Mehr von Omid auf Twitter: @omid6887

Der Text erschien zuerst im Magazin „Gesicht zeigen!“ zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes.

Foto: Jann Wilken